Ein Koffer erzählt Geschichte – Eine Begegnung in meiner Ledermanufaktur
- vladisartgeorgiev
- 6. Juni
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Juni
Inmitten der alltäglichen Geräusche meiner Werkstatt – dem rhythmischen Klopfen auf Leder, dem Surren der Nadel, dem Duft von Wachs und Patina – erreichte mich vergangene Woche ein Anruf. Eine englische Nummer. Kurz darauf eine Nachricht: Ein Mann, unterwegs, auf Zwischenstation in München. Sein alter Lederkoffer – beschädigt, der Griff ausgerissen, der Zeit ausgeliefert. Die Bitte war klar: eine schnelle, robuste Reparatur. Ästhetik? Nebensache. Funktion? Dringend.
Was auf den ersten Blick wie ein einfacher Auftrag wirkte, entpuppte sich bald als kleine Reise in die Vergangenheit – durch Geschichten, Erinnerungen, Orte und Generationen. Nur eine Stunde blieb mir zur Reparatur. Und dennoch: Ich sagte zu. Aus einer inneren Stimme heraus, die mir sagte – diesem Koffer muss geholfen werden.
Wenig später betrat der Kunde meine Werkstatt. In seinen Armen: ein sichtlich gealterter, aber würdevoller Koffer. Ein Stück gelebte Zeit. Ein alter Hotellaufkleber aus Detroit klebte noch auf der Seite – wie eine Postkarte aus einer anderen Ära. Während ich den Riss im Leder begutachtete, begann er zu erzählen: Der Koffer war einst das Reisegepäck seines Großvaters, der mit ihm in die Vereinigten Staaten gereist war. Nun war er es selbst, der mit diesem Koffer durch Europa zog – nicht, um Urlaub zu machen, sondern um in alten Buchhandlungen vergessene Schätze aufzuspüren. Bücher, Geschichten, gebundene Zeit. Alles für seinen kleinen Buchladen in London.
Er habe den kaputten Koffer von Vaduz bis München in den Armen getragen – „wie ein Baby“, sagte er lachend. Er schien nicht nur Bücher zu transportieren, sondern Erinnerungen, Vergangenheiten, Geschichten, die das Leder in sich aufgesogen hatte.
Spannend war auch seine Herkunft – ein Vater aus England, eine Mutter aus der Schweiz. Sein Deutsch war geprägt von einem charmant eigenwilligen Schwytzerdütsch, das irgendwo zwischen Zürichsee, Londoner Buchhandlung und gelebter Reiselust klang. Es verlieh seinen Erzählungen einen ganz eigenen Klang, fast so, als spreche auch seine Sprache in alten Geschichten.
In seinem Koffer fand sich, fast wie durch einen glücklichen Zufall, ein alter, stabiler Ersatzgriff. Ich nutzte ihn für die Reparatur, vernähte ihn, vernietete ihn. Funktional. Stabil. Und doch – mit so viel Respekt für die Geschichte, die dieses Stück Leder in sich trug, dass es keine bloße Reparatur war, sondern eine stille Hommage an gelebtes Leben.
Da ich in Ruhe arbeiten wollte, schickte ich ihn nach Hause – und lud ihn für den nächsten Morgen erneut ein, obwohl es ein Feiertag war. Als wir uns wieder trafen, hielt der Griff. Der Koffer war bereit für die nächste Etappe seiner langen Reise. Wir unterhielten uns noch eine Weile, lachten, machten ein gemeinsames Foto. Beim Abschied versprach er, sich zu melden, wenn er wieder in München sei.
Solche Begegnungen erinnern mich daran, dass meine Arbeit weit über Leder, Nadel und Faden hinausgeht. Ich repariere keine Dinge – ich berühre Geschichten. Ich nähe Zeit zusammen. Ich helfe dabei, Erinnerungen weiterzutragen. Und manchmal – ganz selten – ist es nicht nur ein Koffer, der die Reise fortsetzt. Sondern auch etwas in mir, das ein Stück mitreist.




















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